Borderline oder komplexe PTBS?

Ich bin der festen Überzeugung, dass viele Borderline-Patienten falsch diagnostiziert und behandelt werden. Ich denke in vielen Fällen wäre eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung die zutreffendere Diagnose und würde den betroffenen Menschen viel größere Heilungschancen eröffnen.

Leider ist diese Unterscheidung noch nicht so weit verbreitet in den psychiatrischen Systemen und ehrlich gesagt habe ich auch das Gefühl, dass das vielleicht gar nicht so gewollt ist.
Die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung sieht hauptsächlich vor, die „fehlgeleiteten“ Impulse und zu starken Emotionen auf ein „normales“ Maß zu regulieren und dem betroffenen Menschen dadurch wieder Handlungsmöglichkeiten zu geben sein Leben selbstbestimmt zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Klingt gut – aber was ist, wenn die fehlgeleiteten Impulse in Wirklichkeit ein sehr gesunder Überlebensmechanismus sind aus einer Zeit, in der das die einzige Möglichkeit war emotional weiterzuleben?

Menschen mit kPTBS haben oft von Anfang an gelernt ihre Gefühle und Bedürfnisse wegzupacken, da es zu gefährlich war diese im Beisein der überforderten Bezugspersonen zu zeigen.
Und diese Menschen sollen jetzt durch eine Therapie lernen wie sie ihre Gefühle „weg-regulieren“ und werden dafür belohnt, wenn sie sich konform verhalten – äh, HALLO, merkt ihr was??

Menschen mit Borderline-PS sind in der Gesellschaft und nicht selten auch im Hilfssystem vielfältigen Diskriminierungen und Stigmatisierung ausgesetzt – sie werden als grundlos aggressiv, spaltend und irgendwie diffus gefährlich wahrgenommen.
In unserem Beispiel hieße das der Betroffene erlebt als Kind Gewalt und Ausgrenzung (z.B. durch ein Bindungstrauma), entwickelt aufgrund dieser massiven Verletzungen für ihn hilfreiche Überlebensmechanismen und wird dann als Erwachsener für diese Mechanismen diskriminiert und ausgegrenzt – die Mechanismen werden als krank dargestellt ohne ihre wirkliche Funktion zu kennen oder zu beleuchten.
(Anmerkung dazu: die meisten Borderline-Kliniken arbeiten nach der Dialektisch-Behavioralen-Therapie DBT, die eigentlich nur als erster Schritt zur Stabilisierung vor einer Traumatherapie gedacht ist. Leider wird das oft anders gehandhabt und es bleibt beim reinen DBT ohne anschließende Traumabehandlung.)

Stellen wir uns vor ein Kind wächst mit einem narzisstisch-gestörten Elternteil auf und erlebt von klein auf schweres Gaslighting (dem Kind wird eine andere Realität vorgegaugelt als die, die es tatsächlich erlebt).
Dieser Mensch wird in seiner Entwicklung sehr sehr feine Antennen ausbilden für Unstimmigkeiten im Verhalten anderer Menschen, aber er wird sich nicht trauen seiner Wahrnehmung und seinen Sinnen zu vertrauen.
Kommt so ein Mensch nun als Erwachsener auf eine Borderline-Station und trifft dort unglücklicherweise auf einen Helfer mit Helfersyndrom (die nutzen grob gesagt Hilfsbedürftige aus, um sich selber besser zu fühlen), wird er unbewusst merken, dass etwas nicht richtig ist und sich durch seine bekannten Überlebensmechanismen zu wehren versuchen.
Dies wird ihm aber von besagtem Helfer als eindeutiges Symptom seiner Borderline-PS ausgelegt und dem Patienten wird nunmehr die berühmte Spaltung vom Team vorgeworfen.
Der Betroffene erlebt hier also wieder das gleiche wie in der Kindheit und wird auch hier nur akzeptiert werden, wenn er seine eigene Wahrnehmung ausschaltet und sich willenlos ergibt.

Gilt natürlich nicht pauschal für alle Borderline-Stationen – manche haben dieses Problem erkannt und gehen durch Supervision und Transparenz gegen die Gefahr der Helfergewalt vor.
Aber die meisten haben dafür wohl weder Kapazität noch den Willen etwas zu verändern.

Wie sähe die Situation aus, wenn man sie unter Einbeziehung des Wissens um traumatische Überlebensmechanismen betrachten würde?
Zum Beispiel berichtet eine Patientin „Die Frau Müller behandelt mich unfair und das macht mich wütend“.
Würde man nicht darauf eingehen, könnte man sagen „Das stimmt nicht, da projezieren Sie nur wieder etwas hinein. Bei uns werden alle Patienten gleich behandelt. Ihre Wut ist ein Symptom Ihrer Krankheit – wissen Sie noch welche Skills Wut abschwäschen können?“
Anders wär es, wenn Frau Müller ernsthaft darüber nachdenkt und vielleicht zu der Erkenntnis kommt „Stimmt, irgendwie triggert die Patientin etwas in mir, weil sie immer so hilflos erscheint und damit kann ich nicht gut umgehen. Ich habe sie wohl wirklich unbewusst manchmal schlecht behandelt.“

Ich hoffe sehr, dass sich das Wissen um traumabedingte Überlebensmechnismen immer mehr in der Psychiatrie und Psychiologie durchsetzen wird und die Menschen, die in Wirklichkeit eine kPTBS haben, mehr Heilungsoptionen bekommen als nur das stumpfe Funktionieren-Lernen wie es viele Kliniken derzeit noch anbieten.

Wer sich weitergehend mit den Unterschieden bzw. Überschneidungen von Borderline und kPTBS beschäftigen möchte, dem sei der Aufsatz von Prof. Dr. Sack empfohlen: https://www.geps.info/downloads/publikationen/Dulz_Handbuch-Borderline_20.pdf

Oder das Buch „Die Narben der Gewalt“ von Judith Hermann.

4 Comments

  1. Liebe Sarah. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich mit einer Methode regulieren sollte. Innerlich habe ich Widerstand gespürt, da ich wieder das Gefühl vermittelt bekam etwas nicht ausleb zu dürfen. Uns wieder muss ich unterdrücken. Es wurde alles schlimmer… Daher gebe ich Dir total recht!

    So einfach ist das dann eben nicht; dafür wirr, komplex – und oft mit Hoffnungslosigkeit verbunden.

    Vielen Dank für Deinen Blog und die spannenden Videos. Weiter so!

    Ganz liebe Grüsse,
    S.

    1. Liebe S.
      vielen Dank für deinen lieben Kommentar und dass du deine Erfahrungen mit uns teilst.

      Ich glaube alles, was langfristig unterdrückt wird und nicht sein darf, kommt irgendwann mit voller Wucht zurück.
      Es macht natürlich Sinn zu lernen wie man sich temporär runterregeln kann – aber Therapie darf einfach nicht da aufhören.
      Ich denke gerade das geschützte Setting in der Therapie oder Klinik sollte ja eigentlich den Raum geben, um schwierige (alte?) Gefühle da sein zu lassen, zu verstehen und zu integrieren.
      Leider wagen sich die meisten Kliniken und Therapeut*innen nicht an sowas und dann bleibt nur oberflächliches Wegdrücken durch Verhaltenskontrolle (Spoileralarm: seelische Verletzungen aus der Kindheit kann man so nicht heilen…da muss man schon ran an den „Speck“).

      Ich wünsche dir, dass du Möglichkeiten für dich findest, wie deine Gefühle sein dürfen und ernst genommen werden. Mir hilft meistens das Bild, dass ich mir selber eine gute Mutter sein darf (eine für mich ideale Mutter – unabhängig von echten Personen).

      Liebe Grüße
      Sarah

  2. ich kann mir vorstellen, daß dieselbe handlung sich ganz unterschiedlich anfühlt – also z.b. wenn ein therapeut mir übungen zur selbstregulation zeigt, um mir zu helfen, mich nicht immer so hilflos zu fühlen, wenn mich gefühle oder die innere anspannung überfluten – gegenüber einem therapeuten, der mir das gefühl gibt, so nicht richtig zu sein, wie ich mich in dem moment fühle – dann verursacht ganz unterschiedliche empfindungen in mir.
    da haben wir zum glück ja durch schlechte erfahrungen ganz feine antennen entwickelt.
    und darauf sollten wir immer hören, egal mit welchen akademischen wortsalven uns irgendeine technik angepriesen wird!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert